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Gespeichert von Claude Beaunis am Mo., 16.07.2012 - 10:02
Die Schule muss Antworten bieten
 
Im Lauf dieses Jahres haben wir einen Wirbel von Ereignissen erlebt, die uns zum Nachdenken brachten über unsere Rolle als Erziehende, die eine große Verantwortung für den Zustand der Welt tragen.
 
In Mexiko hat uns die Situation der Gewalt in den letzten sechs Jahren mit der Notwendigkeit konfrontiert, uns die Frage nach unserer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen angesichts einer Welt, in der die Droge mehr und mehr Raum einnimmt. Wir müssen uns eingestehen, dass die Schule eine wichtige Rolle spielt in einer Welt, die mehr und mehr in Korruption versinkt. Die Droge ist wie ein geheimes Netz, das immer jüngere Menschen anzieht, die meinen, hier eine Lösung zu finden für die Probleme der Armut, der Unterentwicklung, der Überbevölkerung und der Ungleichheit der Lebenschancen.
 
Wir müssen wagen daran zu denken, dass die Schule eine bessere Welt für die Jugendlichen bieten kann. Mädchen und Jungen müssen begreifen, dass sie hier ihr Potential entfalten können. Das stellt eine Herausforderung dar, der sich die PädagogInnen stellen müssen.
 
Angesichts einer Gesellschaft voller Gewalt, angesichts von struktureller Gewalt und Neoliberalismus, von der Macht des Geldes, kann Schule dennoch ein Ort der Hoffnung sein. Die Welt zu entdecken kann nicht nur Sinn machen, um sie zu besitzen und die Anderen zu vernichten im Wettlauf um die Vorherrschaft. Das ist der Sinn von Erziehung und Bildung.
 
Wir sehen, wie sich zur Zeit eine Welt entwickelt, in der Kinder und Jugendliche keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen und in der sie nicht mehr produktiv sein können. Sie ist von der Logik des Marktes beherrscht.
 
So haben die Städte in ihrem ungebremsten Wachstum die Kinder vergessen: der Platz, der ihnen dort zugewiesen wird, ist eng begrenzt und gefährlich. Die Kinder können sich nicht mehr an ihrer Umgebung erfreuen; auf dem Schulweg sehen sie keine Bäume, keine Vögel, keine kleinen Kieselsteine mehr, oder eine Katze auf einer Mauer. Das Leben der Kinder spielt sich in geschlossenen Räumen ab; sie bewegen sich nur noch von der Wohnung hin zum Schulhof. Der Fernsehschirm und die Internet-Spiele werden attraktiver als die Welt, die sie umgibt.
 
In vielen anderen Fällen werden sie auf Grund von Armut, Arbeitslosigkeit und Überbevölkerung sogar von der Schule ferngehalten. Die Kinder werden in zahlreichen benachteiligten Regionen unserer Welt auf die Straße geschickt, um alles Mögliche zu verkaufen, um Lasten zu tragen, um auf ihre Brüder und Schwestern aufzupassen – oder wenn sie Mädchen sind, im Haus zu bleiben und die Aufgaben der „kleinen Hausfrau“ zu erfüllen. Wenn diese Kinder von ihrem Leben erzählen, sind es die Lebensbedingungen, die sie daran hindern zur Schule zu gehen. In einigen Ländern, wie z.B. Mexiko, fallen die Kinder der organisierten Kriminalität oder dem Drogenhandel zum Opfer. Diese Phänomene breiten sich in Lateinamerika, in Afrika und Asien immer weiter aus.   
 
 
Noch einmal: Die Schule muss Antworten auf diese Zustände finden
 
Wenn die Schule als Antwort nur ein repressives und monotones System zu bieten hat, ohne Sinn, voller öder Wiederholungen und bedrohlichen Auswirkungen für die Persönlichkeitsbildung der Kinder, dann stellt die Flucht vor der Schule eine Flucht in Freiheit und Selbständigkeit dar. Aber...
 
ñ Was würde passieren, wenn die Schule jedem Kind erlaubt, es selbst zu sein und seine Individualität nicht aufzugeben angesichts der Forderung nach Homogenität?
ñ Was wäre, wenn die Schule eine fortschreitende Entwicklung der individuellen Sprache erlauben würde, um Kultur zu verstehen, und wenn sie jedem Kind die Gewissheit geben würde, dass es selbst ein Forscher / eine Entdeckerin sein kann?
ñ Was wäre, wenn sich die Schule in ein wahrhaftes „Laboratorium des Lebens“ verwandelt, in dem die Fragen der Kinder und Jugendlichen unbedingte Priorität besitzen? Dann kann die Anregung, selbst kreativ zu sein, die Wirklichkeit zu untersuchen, sich Fragen zu stellen und sie durch neue Fragen zu beantworten, ihre Früchte tragen. Dann entwickelt sich der Geist der Wissenschaft, der Kunst, die Freude an Sprachen, an der Philosophie und am Kampf für die Demokratie.
ñ Was passiert, wenn die Schule zu einem Ort der Chancengleichheit und der gleichen Rechte wird, wenn die individuellen Unterschiede als beste Voraussetzungen für kooperatives Lernen angesehen werden?
ñ Was passiert, wenn die Schulen sich weigern würden, an „landesweiten Evaluationen“ teilzunehmen, die nichts Anderes sind als „Barometer sozialer Ungleichheit“, wie es Camila Vallejo von der Protestbewegung der chilenischen Studenten ausdrückt?
ñ Was wäre, wenn die Schule dem Vorbild von Rita Levi-Montalcini folgt, der über hundertjährigen Nobelpreisträgerin und Krebsforscherin, die gegen den Faschismus Mussolinis kämpfte und die immer betonte, dass das Leben uns erlauben müsste, Erfahrungen zu machen und selbst zu entscheiden, was man für sich selbst akzeptiert oder zurückweist?
ñ Was passiert, wenn die Schule die Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen ins Zentrum ihrer Bemühungen rückt und als handlungsleitende Maxime anerkennt? 
 
Dann würden viele soziale Praktiken in Frage gestellt. Dann wäre Rosa nicht mehr die Farbe der Mädchen, die auf ihre modischen Accessoires nicht mehr so stolz wären, und die dunklen Farben und die Hosen nicht mehr nur für die Jungen....
 
Dann würden beide Geschlechter beim Fußball ihre Kraft und Geschicklichkeit messen.......
 
Dann gäbe es keine typischen Arbeiten für Mädchen und Jungen mehr. Die Kinder würden schon von frühem Alter an begreifen, dass das Abwaschen, Kochen und Waschen Aufgaben sind, die man gleich verteilen muss, um das Zusammenleben in Gleichheit zu gestalten.
 
Dann würden die Mädchen nicht mehr lernen, dass sie zu schweigen haben, dass sie ihre Missbilligung und ihren Protest offen ausdrücken können..... Und die Jungen würden lernen, dass es nötig ist, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu argumentieren, zu respektieren, was die Frauen und Mädchen sagen. Dann würde der Vater im Haus nicht mehr derjenige sein, der alles bestimmt und der „das letzte Wort hat“......
 
Dann würden die Kinder begreifen, dass Kindererziehung eine gemeinsame Aufgabe ist, dass die Verantwortung dafür 50 zu 50 gleich verteilt ist und dass es das einzige Privileg der Mutter ist, dass sie die Kinder stillen kann.
 
Dann würde man/frau anerkennen, dass Bücher für Alle da sind. Und dass es keine Gewalt verherrlichende Literatur für die Jungen geben darf, weil dies angeblich „in ihrer Natur liegt“.
 
Dann würde gelernt werden zu kooperieren, zusammen an einem Projekt zu arbeiten, die Teilnahme der Jungen und Mädchen an einem Lebensentwurf zu respektieren, der es ihnen in Zukunft ermöglicht, in der Gemeinde, der näheren Umgebung, in ihrem Land und in der Welt Verantwortung zu übernehmen für Aufgaben, die wirklich gleich verteilt sind für Männer und Frauen.
 
Dann würden einige Spiele aus der Schule verschwinden, weil sie soziale Muster verstärken, die Frauen diskriminieren und sie auf eine Rolle als „Püppchen“ festlegen, wie das „Barquero-Spiel“ in Mexiko..............
 
Dann würde es nicht mehr als 'wohlerzogen' gelten, wenn ein Mädchen oder eine Frau schweigt angesichts der Gewalttätigkeit ihrer Spielkameraden, ihrer Brüder oder gar ihres Vaters: „Wenn du den Mund hältst, bist du viel hübscher.“ Dieser Satz darf nicht mehr dafür herhalten, um die eine Hälfte der Welt zum Schweigen zu bringen, damit sie den Männern zuhört und damit Konflikten und Auseinandersetzungen aus dem Weg geht.
 
Dann wäre es im Klassenrat selbstverständlich, dass die männliche Stimme nicht Recht hat weil sie lauter ist, sondern weil sie wie die Stimme der Mädchen die gleiche Chance hat, Probleme zu analysieren und zu lösen.
 
Die Freinet-Pädagogik bietet diesen Raum für die Schaffung einer Kultur der Kooperation und des gemeinsamen Ausdrucks. Daher muss sie sich auch fragen lassen, wie sie mit ihren Lehrerinnen umgeht, die ebenfalls Frauen, Mütter und Partnerinnen für ihre Männer sind. Warum spricht man so wenig von ihnen? Welche Art von Beziehungen haben sich hier entwickelt, da sie häufig nur stille Teilnehmerinnen der Kämpfe an der Seite ihrer Männer sind?
 
Wir wollen die Frauen in der Freinet-Bewegung nicht zur Revolution aufrufen, aber wir möchten Alle aufrufen, folgende Fragen zu beantworten:
ñ Wie kommt es, dass sie so wenig sichtbar sind? Wo sind sie?
ñ Welche Chancen habt ihr ihnen überlassen?
ñ Wer hat sich um eure Kinder gekümmert?
ñ Wer hat auf ein Diplom, einen Arbeitsplatz, eine Reise verzichtet, um seiner Frau den Vortritt zu lassen?
ñ Wie viele Frauen haben niemals ihre Erfahrungen niederschreiben können, weil sie selbst am Ende eines langen Tages im Klassenzimmer, nachdem sie ihre eigenen Kinder in der Schule abgeholt haben, sie zum Spielplatz begleitet haben, ihnen Essen gemacht, sie gewaschen und ins Bett gebracht haben, so erschöpft waren, dass sie unmöglich noch ihre Überlegungen zu Papier bringen oder einen Artikel am Computer schreiben konnten.....
 
Wir wollen nicht nur die außergewöhnlichen Leistungen einiger bestimmter Frauen anerkennen, sondern auch die Doppel-Belastung aller Frauen in der Freinet-Bewegung.
 
Wenn wir die Dinge unter der Perspektive der Gleichheit der Geschlechter betrachten, dann bedeutet das auch, unsere tägliche Praxis in und außerhalb der Schule zu betrachten – damit das kulturelle Erbe in den Blick kommt, das wir durch unser Beispiel bezüglich der Männer- und Frauenrollen an unsere Kinder weitergeben.
 
Es bedeutet, unsere Frauen und Partnerinnen, unsere Mütter, unsere Schwestern, unsere Töchter zu betrachten und über den Sinn der Worte Kooperation, Freiheit, Respekt, Anerkennung und Autonomie nachzudenken.
 
Teresita Garduňo Rubio